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Eine subjektive Sicht auf das Postulat der Chancengleichheit

von Paul Riniker


Sehr geehrte Damen und Herren,

Zum Thema Chancengleichheit, sei es nun eine allgemeine oder eine im Bereich der Gesundheitsförderung, habe ich Ihnen keine wissenschaftliche Abhandlung anzubieten, sondern bloss meine eigenen Gedanken dazu. Diese gründen auf meiner Erfahrung, und ich ziehe daraus Schlüsse, ohne den Anspruch auf eine irgendwie geartete Allgemeingültigkeit zu erheben. Ich versuche, Ihnen meine subjektive Sicht näher zu bringen.

Ich bin bei meiner Arbeit immer davon ausgegangen, dass ein gewöhnlich Sterblicher, also nicht ein mediengeschulter Politiker oder Manager, in dem Moment keine Chance mehr hat, in dem er vor eine Kamera tritt. Dass ein Gefälle herrscht zwischen dem Fernsehen und seinen Opfern in dem Spiel, das da gespielt wird, mit einer klaren Rollenverteilung. Verlieren kann immer nur der Dargestellte, der Mensch vor der Kamera, und niemals derjenige, der dahinter steht.

Ich habe dieses Spiel zu durchbrechen versucht, indem ich mich einerseits selbst eingab und mich dadurch auch gelegentlich bloss stellte. Ich versuchte, das vorgegebene Gefälle aufzuheben. Ich wollte den von mir Gefilmten eine Chance geben, sich selbst zu sein und sich äussern zu können. Ich tat dies nicht einfach aus Nächstenliebe oder sonstigen hehren Motiven, sondern weil ich es so viel spannender fand. Ich spielte gleichwertig mit, mimte nicht den Schiedsrichter. Ich wollte den Zuschauern keine Weltsicht von oben vermitteln, sondern sie in meine ureigenen Erfahrungen, Begegnungen mit einbeziehen.

Ich habe meinen Protagonisten immer etliches über mein Leben erzählt, über das berufliche und das private. Schliesslich wollte ich ja auch von ihnen oft ganz Privates wissen und dies sogar einem breiten Publikum zeigen. Also versuchte ich, ihnen auch einen Blick in meine Seele zu gewähren. Das fällt mir relativ leicht, weil ich bei meiner Arbeit ohnehin oft nicht weiss, ob ich etwas aus beruflichen oder aus privaten Gründen unternehme. Ich habe das Glück, mit meinen Leidenschaften auch noch Geld zu verdienen. Eine Chance, die wohl den wenigsten zuteil wird.

Ich durfte fürs Schweizer Fernsehen 70 Dokumentarfilme realisieren. Die meisten davon waren Porträts von Menschen, oft von Aussenseitern, etliche von Menschen ohne Lebens- oder ohne Überlebenschance. Vor zwei Jahren habe ich meinen ersten Spielfilm gedreht, „Sommervögel“. Auch ein Film über Aussenseiter. Über solche, die keine Chancen haben, und sie trotzdem nutzen.

Als Altlinker redete ich ja ein Leben lang davon, dass es keine Chancengleichheit gebe. Aber als ich vor einigen Jahren einen Film über eine Deutschklasse in Schaffhausen drehte, erlebte ich die Realität dieser Ungleichheit so krass, dass ich es fast nicht glauben wollte. Ich drehte – über ein Jahr verteilt an rund 15 Tagen – unter anderem mit einem kurdischen Mädchen und mit dem Sohn einer russischen Mutter, die sich mit einem gut situierten Schweizer verheirat hatte. Beide Kinder waren intelligent. Der Knabe lernte in seiner Freizeit einerseits Russisch, indem er auf russischen Websites surfte, und andererseits büffelte er mit seiner Mutter Deutsch. Er wohnte in der Schaffhauser Altstadt. In seiner Freizeit spielte er draussen mit schweizerischen und deutschen Kindern. Die Folge: Er machte in der Deutschklasse schnellstens Fortschritte und wurde ein guter Schüler.

Das kurdische Mädchen wohnte in einem Getto ausserhalb Schaffhausens, wo praktisch ausschliesslich Ausländer logierten. Sein Vater war schon einige Jahre in der Schweiz, als Flüchtling, der in der Türkei verfolgt und gefoltert worden war. Die Mutter war mit dem Mädchen und seinen drei Geschwistern vor kurzem in die Schweiz gekommen. Der Vater sprach zwei, drei Brocken Deutsch, die Mutter gar nicht. Die Familie hatte zuvor in einem abgelegenen Dorf in Anatolien gelebt, beide Eltern waren Analphabeten. Das Mädchen verbrachte seine Freizeit in der Wohnung vor dem Fernseher, auf dem kurdische Programme liefen. Obwohl es intelligent und auch interessiert war, genau so wie der russische Bub, kam es in der Deutschklasse nicht vom Fleck.

Mich machte das wütend, aber ich fühlte mich auch hilflos. Was hätte ich, was hätte unsere Gesellschaft diesem Mädchen bieten können, um es aus dieser Diskriminierung heraus zu holen? Die beiden Lehrerinnen der Deutschklasse taten alles, was in ihren Kräften lag, doch das änderte wenig. Das Mädchen hatte schlicht und einfach keine Chance.

Wenn ich dann noch so SVP-Parolen und Stammtischsprüche anhören muss im Sinne von: Die sollen doch wieder hingehen, wo sie herkommen, dann werde ich infarktanfällig.

Ja, das schöne amerikanische Märchen vom Tellerwäscher, der es zum Millionär gebracht hat! Solche Fälle gibt es sicher - sie sind einfach nicht die Regel, nicht unsere gesellschaftliche Realität. Und sie haben relativ wenig mit dem Willen zu tun.

Wenn wir von Chancen reden, so meinen wir ja nicht nur Bildung, auch nicht nur Geld, wir meinen es umfassender als Chancen auf Glück. Gibt es ein Recht auf Glück? - Wir erheben zumindest einen Anspruch darauf.

Wenn wir diese Glückserwartung nicht auf ein Jenseits projizieren, wie definieren wir dann Glück? Ist es die Abwesenheit von Not, von Leid?

Und: Gibt es Menschen, die keine Not leiden? Die einfach nur glücklich sind? Ich meine das nicht zynisch. Für mich war das Buch von Kertész, „Roman eines Schicksallosen“, ein Schlüsselerlebnis: Wie das Kind darin das Leben im Konzentrationslager als Normalität nahm, wie das sein Ausgangspunkt und sein Massstab für Glück und Unglück war, das vermittelte mir eine existentielle Erkenntnis von der Relativität der Wahrnehmung. Mit einem anderen Bild gesagt: Wie viel mehr bedeutet einem hungernden Kind eine Schale Reis als einem Millionär ein neues Auto? - Not und Leid sind relativ, sie messen sich immer an der subjektiven Normalität des einzelnen, die Betroffenen registrieren nur die Bewegung hin zum Besseren oder zum Schlechteren.

Kein Mensch wird deshalb die Hände in den Schoss legen und uns sagen: Die Notleidenden kennen es nicht anders, das sei gar nicht so schlimm für sie. Ich leide mit, mit diesem kurdischen Mädchen zum Beispiel. Wieviel es von seiner Situation wahrnahm, weiss ich nicht, aber gelitten hat es daran gewiss. Ich denke, es spürte, dass es keine Chance hatte.

Meine Filme handelten vornehmlich von Menschen in Not. Sie hatten AIDS oder Krebs, fühlten sich im falschen Körper wie Coco, waren essbrech- und magersüchtig oder sonst wie leidend. Ich versuchte, ihnen eine Stimme zu geben. Wenn man mich fragte, ob mich das nicht bedrücke, all das Elend, mit dem ich mich beschäftigte, konnte ich immer ehrlich sagen: Nein, es hilft mir, mich mit dem eigenen Sterben auseinanderzusetzen, und das intensiviert mein Leben. Gelitten habe ich, wenn ich, was auch gelegentlich vorkam, beim Porträtieren eines Menschen an der Oberfläche abprallte, sein Inneres nicht zu berühren vermochte.

Ob ich, beispielsweise mit den drei Filmen über AIDS-Kranke, am öffentlichen Bewusstsein etwas zu ändern vermochte, bezweifle ich. Das heisst: Ich versuche, mir einzureden, dem sei so. Dann hätte sich wenigstens noch ein bisschen von meinem politischen Engagement der 68er-Jahre für eine gerechtere Gesellschaft durch mein Leben gezogen. Kleinste Schrittchen hin zu mehr Chancengleichheit, mehr sozialer Gerechtigkeit.

Ich weiss: Es leiden auch gesunde, satte und von Kriegen verschonte Menschen. Sie haben vielleicht eine grössere Chance, glücklich zu werden, aber ob sie sie auch wahrnehmen können, ist durch die Abwesenheit von Not nicht garantiert. Trotzdem postuliere ich Chancengleichheit, und lasse mich dabei auch von der Chancenlosigkeit ihrer Realisierung nicht beirren. Als idealistisches Ziel macht es Sinn, so wie Widerstand gegen Ungerechtigkeit immer Sinn macht. Und sei es auch bloss zum Zweck, dass wir vor uns selbst bestehen können.

Weg von Abstraktionen und Parolen, lassen Sie mich von einem reden, der Not litt und wenig Chancen hatte - und mir trotzdem auf Augenhöhe gegenübertrat. Ich meine Toni, den geistig behinderten Bergbauernsohn, mit dem ich 1985 den Film „Tonis Träume“ drehte, bis heute einer meiner liebsten Filme.

Toni litt, oft und stark. Dennoch strahlte er auch immer wieder Lebensfreude aus. Er forderte mich heraus, aber er bot mir auch viel. Ich fragte mich, weshalb ich ihn so gut verstand.

Ein Film gelingt, wenn ich im Porträtierten einen Teil meiner selbst entdecke. Und das Irre am Bauernsohn, das kannte ich, wenn auch in einer schwächeren Form, aus meiner eigenen Jugend.

Wenn ich als Kind emotional nicht so reagierte, wie man es von mir erwartete, so fragte man mich und fragte ich auch bald mich selbst: „Spinnsch ächt jetz?”. Ich hatte Angst, dass ich nun auch einer von denjenigen sei, von denen man sagte, sie seien mit einem Dachschaden zur Welt gekommen, sie tickten nicht richtig im Kopf oder seien eben „irr”. Aus dieser Erfahrung heraus verband ich früh schon jede Individualität mit einer Abnormität, wenn ich wirklich ich war und somit auch unterschieden von den anderen, so lief ich Gefahr, „irr” oder „ver-rückt” zu sein.

Es gibt Leute, die sagen, meine siebzig Filme, seien allesamt Selbstporträts. Ich nehme das mehr als Kompliment denn als Kritik zur Kenntnis. Ich bin der Meinung, ein Autor dürfe sich nicht hinter seinen Filmen verstecken. Etwas zugespitzt formuliert liesse sich sagen: Nur das, was ich im anderen als eigene Wahrheit entdecke, kann ich an mein Publikum weitergeben. In der mir liebsten Szene, im Schluss von „Tonis Träume”, führt mich der geistig behinderte Toni richtiggehend vor; nachdem er zwei Stunden auf einem Synthesizer improvisiert hatte, zeigte er mir etwas von mir, von meinem alltäglichen Irresein. Ich zeige Ihnen die Szene.

Vorführung Schluss von „Tonis Träume“ (5’, *.wmv 270MB)
alternative Datei *.VOB (170MB)
oder (am schnellsten) über YouTube

Es waren grundsätzlich nicht die Erfolgreichen, die Angepassten, die ich für meine Filme ausgewählt hatte. Es waren auffällig oft gestrauchelte Menschen, Menschen die anstiessen, die Widerstand leisteten, die litten, die sich selbst als ausserhalb stehend erlebten. Darunter gab es Menschen, die man früher Dorftrottel genannt hätte. Dorftrottel waren zu ihrer Zeit in die Gemeinschaft integriert, man kannte und schätzte sie in ihrer Andersartigkeit. Ohne sie hätte dem Dorf etwas gefehlt. Das Bild ist vielleicht ein Klischee, es ist mir dennoch wertvoll. Ich liebe die Geschichten vom Narren am Hofe, der Wahrheiten sagen durfte, die für andere tabu waren; mir kommt der Spruch in den Sinn von den Kindern und den Wahnsinnigen, die ihre Sicht der Welt ungefiltert und deshalb wahrhaftig äussern. Auf mich selbst bezogen: Ich irre auch, wir alle irren, gelegentlich sogar zu unserem Nutzen. Und letztlich irren wir doch alle durchs Leben. Das Verrückte dabei: Ich habe mich nicht bloss damit abgefunden, ich geniesse es geradezu, das Leben und seine Wahrheiten auf Irrwegen täglich neu zu entdecken und mehr noch: das Leben in seiner Unfassbarkeit auch täglich neu zu erfinden. Es macht mir Spass, mir selbst und den Zuschauern etwas über unser eigenes Nicht-angepasst-sein aufzuzeigen, über das Disfunktionale in uns allen, aber auch über die phantastischen, kreativen Seiten des Irrens.

Das Abnorme verliert zusehends seine Existenzberechtigung, oder es bezieht sie bloss noch als Amusement für die sogenannt Normalen. Heute verhindern genetische Frühdiagnosen in den industrialisierten Ländern weitgehend, dass Menschen mit geistigen oder körperlichen Abnormitäten geboren werden. Damit wird auch klar der Anspruch erhoben zu wissen, was die Norm ist, was gut ist und was schlecht.

Als ich den Film mit dem geistig behinderten Toni drehte, musste ich einmal vor der Behindertenwerkstatt in Stans eine gute Stunde warten. Ich werde diese Stunde nie vergessen. Ein Jüngling mit Trisomie 21 unterhielt sich mit mir. Er erzählte diverse Geschichten von einer Frau. Irgendwann realisierte ich, dass er nicht stets von derselben Frau sprach, sondern dass er, ohne es klar zu machen, von der Mutter zur Grossmutter, von da zur Schwester, zur Tante und zur Nachbarin sprang. Immer wieder, wenn ich merkte, dass er in seiner Geschichte von einer Figur zur anderen wechselte, wies ich ihn darauf hin. Dann lachte er ein dermassen ansteckendes Lachen, dass wir bald einmal beide nur noch je unseren Bauch hielten und uns vor Lachen krümmten. Hätte uns jemand zugeschaut, hätte er sich sagen können: Zwei total Verrückte – oder zwei äusserst glückliche Menschen.

Ich stehe für Toleranz ein. Das heisst aber nicht, dass ich auf das Postulat der Chancengleichheit verzichten möchte. Bloss weil auch ein ungebildeter Mensch mir etwas bieten kann, halte ich noch lange nicht dafür, dass nicht jeder Mensch ein Recht auf Bildung hat, ja, zugespitzter formuliert, sogar ein Recht auf Glück hat.

Als 68er habe ich in jungen Jahren unter anderem auch lautstark Chancengleichheit gefordert. Und mit den 80er-Jugendlichen wollte ich hinzufügen: Und zwar subito! Ich mag auch nach all den Ungerechtigkeiten, Chancenungleichheiten, die ich in meinem Leben gesehen, erkannt und miterlebt habe, immer noch nicht resignieren. Ohne Vision, ohne Sehnsucht nach einer gerechteren Welt ginge es mir wohl schlechter. Irgendwie brauche ich diese hehre Überzeugung, dass sich noch etwas zum Besseren wenden lässt. Diese Haltung ist sozusagen Teil meiner Glückssehnsucht und damit auch schon ein Teil meines Glücks.

Ich habe das Privileg, in einem sogenannt kreativen Beruf zu arbeiten. Ich bin dabei täglich auf Mitarbeiter angewiesen, von denen ich erwarte, dass sie kreativ mitdenken. Ich erlebe dabei, dass die Unangepassten, die Schwierigen, die in ihrem Leben vielleicht mehr gelitten haben als andere, die kreativsten Leistungen erbringen. Das Neue wächst immer nur aus den Brüchen, aus den Normübertretungen. Das Genie, der Dorftrottel, der Hofnarr, die Alten, die Kinder: Sie sind es, die Grenzen überschreiten, die das Neue vorbereiten und einen Fortschritt garantieren. Der Irre in uns und die Irren um uns herum haben nicht bloss ein Lebensrecht, sie sind sogar nützlich!

Beim Lesen des Geschriebenen frage ich mich: Warum komme ich immer wieder darauf, dass auch Menschen, die unter der Chancenungleichheit zu leiden hatten, trotzdem einen Weg gefunden haben, sich zu verwirklichen? Rede ich damit nicht gegen das Postulat der Chancengleichheit an? – Ich glaube, diese gedanklichen Kapriolen entspringen meinem Bedürfnis, die Tatsache einer ungerechten Welt irgendwie verdaulich zu machen.

Vielleicht war genau das ein Teil meiner Motivation zu filmen: Zu zeigen, wie sich quasi in all der Ungerechtigkeit ein Stück ausgleichende Gerechtigkeit finden lässt, weil der Mensch auch noch dem grössten Leid und Unglück einen Sinn zu geben vermag.

Eine wissenschaftlich kaum zu untermauernde Wahrheit, nur meine subjektive. So wie alle meine Filme subjektiv waren, nie einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben. Dazu ein paar ergänzende Bemerkungen, die vielleicht nur entfernt mit unserem Thema zu tun haben und dennoch bei meinem Versuch, den Protagonisten eine Chance zu geben, eine Rolle gespielt haben.

Filme sind künstliche Produkte. Ob dokumentarische oder fiktionale, sie werden gemacht. Filmen ist der Versuch, im Zuschauer etwas vom Bild der Welt, wie es im Kopf des Regisseurs lebt, nachvollziehbar zu machen. Auch der Dokumentarfilm ist nie das Abbild der Realität, er ist immer nur das Abbild der subjektiven Realitätswahrnehmung des Regisseurs.

Auch beim Roman oder beim Spielfilm suchen Leserinnen, Leser und Zuschauer die Wahrheit, und auch hier finden sie „bloss” die individuelle Wahrheit des Autors. Sie kann jedoch in Beziehung gesetzt werden zur eigenen Lebenserfahrung, zur eigenen, individuellen Wahrheit. Und niemand wird bestreiten, dass Romane und Spielfilme nebst Traum und Phantasie auch Zugang sind zur Welt, Wahrnehmung echten Lebens. Die Umsetzung zersetzt die Wahrheit nicht, sondern sie spitzt sie zu, differenziert sie, verallgemeinert sie, und macht die Wahrnehmung zum geistig-sinnlichen Genuss.

Wer sich nun einen Dokumentarfilm anschaut, erliegt meist der Faszination des sogenannt Authentischen. An einen Dokumentarfilm stellt kaum jemand die gleichen dramaturgischen Anforderungen wie an einen Spielfilm. Allein die Tatsache, dass es da um das sogenannt wirkliche Leben geht, schafft schon eine erhöhte Spannung; denn das Dokumentarische wird als das Wirkliche genommen.

Nun, als Dokumentarfilmer beim Fernsehen profitierte ich ja ganz gerne von diesem Bonus. Und ich erliege auch selbst als Zuschauer immer wieder und gerne der speziellen Faszination des „Authentischen”. Doch hat mir die Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit die Erkenntnis gebracht: Auch ein Dokumentarfilm ist inszeniert – und damit Fiktion. Dies war mir lange Jahre nicht bewusst, und erst eine Serie von zum Teil schmerzlichen Erfahrungen brachte mich zu dieser Überzeugung.

Sage ich: Dies ist die Wirklichkeit, so meine ich: Das ist die von mir in meinem Kopf gemachte Wirklichkeit. Das heisst: Schon die Wahrnehmung ist eine Inszenierung.

Eine andere für mich wichtige Erkenntnis war: Zuschauer nehmen nur wahr, was ihren Parametern nicht zuwider läuft. Deshalb ziele ich bei meinen Filmen - in der Absicht, an Vorurteilen zu kratzen - immer auf Emotionen, die ich mit dem Angebot auf Identifikation mit meinen Protagonisten auszulösen versuche.

Ich habe mit langsamen, geduldigen und vergleichsweise langen Filmen die ZuschauerInnen zu berühren versucht. Ich dachte mir, dass meine Absicht, Menschen zu öffnen, in ihre Seelen zu schauen, zwingend auch Zeit braucht; und zwar nicht nur beim Drehen, sondern auch im geschnittenen Film. Wollte ich ihnen gerecht werden, so sollten sie sich differenziert darstellen können. Das heisst: Lange, ruhige Einstellungen, Gespräche mit Pausen. Die mediale Realität von heute ist aber eine andere: Kurze, hektische, schnell hergestellte TV-Beiträge haben Konjunktur.

Vor rund zehn Jahren fragte mich eine grosse englische Werbeagentur an, ob ich für die Swisscom ganz spezielle Spots drehen würde. Spots sind die extremste Kurzform, in etwa das pure Gegenteil dessen, was ich in den vorangegangenen gut zwanzig Jahren realisiert hatte. Liessen sich meine Grundsätze, meine Ethik auch in Werbespots anwenden? Die Swisscom wollte - quasi als Geschenk an die expo02 - vierzehn 60-Sekunden-Spots. Ich wagte es und drehte sie. Mich interessierte es, ob auch in dieser Kurzform so etwas wie ein echtes Porträt zu realisieren wäre.

Bevor ich Ihnen die ersten fünf der Spots zeige, kurz etwas zur Vorgeschichte: Die Auftraggeber hatten in Spots und Inseraten einen Aufruf lanciert. Wer einmal in einem Werbespot eine volle Minute lang irgendetwas am Fernsehen sagen möchte, solle sich mit einer kurzen Beschreibung dessen, was er zu erzählen hat, melden. Mir wurden dann 5'000 Zuschriften und e-mails präsentiert, ich suchte davon 100 aus und telefonierte mit den Verfassern. Danach wählte ich 50 aus, mit denen ich drehte. Davon liefen dann auf allen drei ersten Sendern der SRG 14 der Spots, zur allerbesten Werbezeit. Beim Realisieren dieser Spots lernte ich: Meine Maximen liessen sich auch in Kurzform anwenden. Was ich über Authentizität und Inszenierung sagte, lässt sich auch in diesen Kürzestformen belegen. Sie sind wohl auch unter dem Aspekt der Chancengleichheit interessant. Ich zeige Ihnen die ersten fünf der 14 Spots.

Vorführung von fünf Swisscom-Spots (6’, *.wmv 200MB)
oder (am schnellsten) über YouTube

Der nach Liebe suchende geistig Behinderte gab natürlich zu reden. Die Frage: Darf man das?, stand im Raum. Die hatte ich mir schon vor dem Dreh gestellt. Weil ich den Mann verstand und ihn mochte, weil er etwas ausdrückte, was ich in gewissen Lebensphasen auch hätte in die Welt hinaus schreien können, fand ich es richtig, dass er auch zu Wort kommt. Eine Lösung für sein Problem hatte ich ihm nicht anzubieten, auch nicht für alle anderen Menschen in diesen Spots. Aber ich gestand ihm das Recht zu, am Fernsehen über das zu reden, was ihn beschäftigte. Ich glaube nicht, dass ich ihn damit missbraucht habe. Trotz seiner Not: Ich musste nicht über ihn lachen, ich lachte mit ihm.

Ich habe mich stets dem Trend zur Exotik verweigert. Ich suchte nie primär Schockierendes, ich vermied den Knalleffekt. Ich versuchte, zuerst mich selbst und danach auch das Publikum in das darzustellende Erleben mit einzubeziehen. Das heisst, ich suchte zuerst immer in den Porträtierten das Verbindende, etwas, das ich aus eigener Erfahrung kannte und somit nachvollziehen konnte. Ich suchte Identifikation. Wenn dann darüber hinaus im dargestellten Schicksal Seiten auftauchten, die mir neu oder fremd waren, so schaute ich mit Empathie darauf, weil ich mich zuvor schon identifiziert hatte. Ich versuchte, auf der gleichen Ebene mit den ProtagonistInnen zu bleiben, nicht auf sie herunter zu schauen. Auch der Zuschauer und die Zuschauerin sollten nicht von oben oder von aussen hin sehen können, sondern mit erleben, sich einfühlen.

Ich glaube, dass mit dieser Haltung ein Missbrauch der dargestellten Menschen unwahrscheinlich wird. Die Gefahr, sie ihrer Würde zu berauben, wird dadurch kleiner. All die Sendungen, die ich in den letzten Jahren aufkommen sah, in denen Menschen blossgestellt werden, in denen sie würdelos sind, beruhen auf dem Prinzip: Hier die Macher, dort das auszubeutende Menschenmaterial. Ich bin immer noch überzeugt, dass ich nie dieser Haltung verfallen bin. Und darauf bin ich stolz.

Gerade weil das Fernsehen in den letzten Jahrzehnten zunehmend dem Trend zur Ausbeutung, zum Schockeffekt ohne Verantwortung für die Folgen verfallen ist, wollte ich weg von diesem Medium. Zumindest weg von den Sendezeiten, in denen mit allen Mitteln ein grosses Publikum angesprochen und erreicht werden musste. Darum arbeite ich seit sechs Jahren ausserhalb, im freien Film. Als Regisseur und als Produzent. Und die schönste Zeit meines ganzen Berufslebens erlebte ich vor zwei Jahren bei der Arbeit als Regisseur des Kinospielfilms „Sommervögel“. Es ist - sinnigerweise – eine Liebesgeschichte zwischen einer leicht geistig Behinderten und einem älteren Rocker. Zwei Irre, in gewisser Weise, die keine Chance hatten im Leben - und sie dennoch packten.

Ich danke, dass Sie bis zum Ende dieses langen Tages zugehört haben.

(Vortrag, gehalten 2011 an einem Symposium gesundheitsfördernder Schulen zum Thema Chancengleichheit)

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