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Lernen in anderen Kontexten

Wie ich gelernt habe, meine Art von Filmen zu entwickeln

(Vortrag, gehalten an der PHZ 2005)

von Paul Riniker


Geschätzte Lehrerinnen und Lehrer, sehr geehrte Damen und Herren,

Ich bin hier, um Ihnen zu erzählen, wie ich im Leben lerne.

Wenn ich das Wort „lernen” höre, assoziiere ich in Erinnerung an meine Schulzeit Druck, Zwang, Unlust, Widerstand. Wenn meine Mutter sagte, geh, mach deine Hausaufgaben, war ich blockiert und konnte nicht mehr. Ich habe dann mit über vierzig mit Hilfe meiner Analytikerin, bei der ich sechs Jahre lang drei Stunden pro Woche auf der Couch lag, in einem schmerzhaften Prozess akzeptieren gelernt, dass ich trotz meiner Lernstörungen in meinem Leben einiges gelernt habe (womit ich das schreckliche Wort „lernen” nun ausgereizt haben dürfte), dass mein Lizentiat beider Rechte mit der Note „cum laude” nicht erschwindelt war, obwohl ich mir 1971 jeweils erst in der letzten Nacht vor den Prüfungen mein gesamtes juristisches Wissen angeeignet hatte; dass mir meine beruflichen Erfolge als Dokumentarfilmer durchaus zustanden, obwohl ich mir mein Handwerk nie an einer Filmschule oder sonst wo systematisch angeeignet hatte. Gelernt hatte ich es trotzdem. Zwar nicht mit einer zielgerichteten Anstrengung, doch mit viel Trial and Error und mit schmerzhaften Erkenntnis-prozessen. Ich habe sogar so viel darüber gelernt, dass ich ein Lehrbuch mit verfassen konnte und seit Jahren über dokumentarisches Filmen und Porträts auch lehre.

Kurz nochmals zurück zu den Erinnerungen an meine Schulzeit. Ich glaube, ich war der Schrecken meiner Primarschullehrerinnen. Eine schnelle Auffassungsgabe, tragisch verquickt mit Ungeduld, bewirkte, dass ich aus Langeweile ständig mit Unsinn den Unterricht störte, damit wenigstens etwas lief. Ich war eine Geissel für Ihren Berufsstand. Später stiess ich dann gelegentlich auf Lehrer und Lehrerinnen, die es verstanden, mich im Unterricht zu packen, mir Lust auf einen Stoff zu vermitteln. Da lernte ich in der Schulstunde selbst plötzlich spielend so viel, dass ich auch ohne Hausaufgaben eine gute Note schaffte.

Lernen in der Not, wenn ein Absturz bevorstand, das war mein Schicksal. Ich träumte immer davon, einmal rechtzeitig mit Lernen anzufangen, doch ich schaffte es nie. Ich brauchte den Druck, eine ungeheure Angst vor der Katastrophe, damit ich mich zum Lernen aufrappelte. Doch eines Tages registrierte ich, dass ich im Leben vieles gelernt hatte, ohne Angst und Druck, sondern mit Lust. Zwar auch mit einer Art Anstrengung, doch gleichzeitig mit einem elementaren Interesse. Um zu erläutern, wie sich meine Wahrnehmung vom Lernen verwandelte, muss ich etwas ausholen.

Ich schrieb vor fast dreissig Jahren als Angestellter des Schweizer Fernsehens eine Zeitlang für die Sendung „Blickpunkt Region” schweizerdeutsche Meldungen. Ein gut bezahlter Vollzeitjob, der mich jedoch kaum je länger als drei, vier Stunden pro Tag beschäftigte. Dann wurde umstrukturiert und die Sendung abgeschafft. Ich hatte die Wahl, entweder zur Tagesschau zu wechseln oder aber für die neue Sendung „Blickpunkt” kleine Filmberichte zu realisieren. Ich entschied mich fürs Filmen. Nach drei Versuchen zitierte mich der damalige „Blickpunkt”-Chef Felix Karrer zu sich und sagte, ich müsse wohl aufhören, ich lerne das nie. Ich kämpfte um eine letzte Chance, erhielt sie und nahm sie wahr, und ein gutes Jahr später war ich eine Stütze der Sendung. Ich war so effizient und produktiv, dass Karrer, als er vom „Blickpunkt” weg ging und eine neue Dokumentarfilmsendung aufbaute, mich mit nahm. Ich drehte, das war 1980, meinen ersten längeren Dokumentarfilm. Sieben Jahre später erhielt ich, für einen TV-Mitarbeiter einmalig, den Zürcher Filmpreis für mein Gesamtwerk.

Ich nehme mir die Freiheit und bin so unbescheiden zu sagen: Ich hatte also dazugelernt. Aber was denn? und wie?

Als ich die Beiträge für die Sendung „Blickpunkt” realisierte, skizzierte ich nach den Recherchen meine Filmideen. Ich legte fest, mit welcher Bildeinstellung und mit welchem Kommentar ich beginnen, mit welchen Statements und welchen Aussagen ich weiter fahren würde, wo ich mit welchen Bildern die thematischen Übergänge bauen und womit ich das ganze beschliessen wollte. Ich timte all dies fast auf Sekunden genau. Dann ging ich los, mit Kameramann und Tonoperateur und holte rein, was ich im voraus geplant hatte. Eine Vorbereitung, die nichts offen liess, die ein grosses Mass an Sicherheit bot, dass ich nach meiner Rückkehr vom Dreh mit einer Cutterin gezielt schneiden und die vorgesehene Länge des Beitrages einhalten konnte.

Je länger ich aber so arbeitete, umso mehr frustrierte ich mich damit. Ich spürte, dass ich Wesentliches, das sich mir während des Drehs offenbarte, einfach ausklammerte, weil es ja nicht in mein Konzept passte. Je mehr Erfahrung ich sammelte, umso freier wurde ich. In der Vorbereitung liess ich zunehmend mehr Freiräume offen. Die dadurch entstehende Unsicherheit kompensierte ich mit gründlicherem Nachdenken über meinen emotionalen Bezug zum jeweiligen Thema, über meine Erwartungen und über meine Vorurteile gegenüber den Menschen, die ich zu filmen beabsichtigte.

Der entscheidende Lernschritt erfolgte, als ich entdeckte, wie viel spannender meine Beiträge wurden, je mehr sie sich beim Drehen von meinem ursprünglichen Konzept entfernten. Ich merkte, dass das Wichtigste am Filmen meine Einstellung, meine Offenheit war. Und wenn ich jetzt vor Ihnen stehe und darüber sinniere, wie ich lerne, so fügt sich daran die Erkenntnis an: Ein Film wird dann gut, wenn ich beim Drehen bereit bin zuzuhören, mit anderen Worten: Wenn ich bereit bin zu lernen.

Ich zeige Ihnen nun aus einem Frühwerk, einem Film aus dem Jahr 1985, ein Beispiel, mit dem ich belegen möchte, wie sich mir dieser Lernschritt, diese Erkenntnis auf ideale Weise offenbarte. Der Film heisst „Tonis Träume”. Ich führe Ihnen etwa das letzte Drittel davon vor. Für mich ist es ein magischer Augenblick, eine Szene, wie ich sie mir in ihrer Dichte und Aussagekraft für jeden Film wünsche. Was mich an dieser Szene genau fasziniert, darauf gehe ich nachher noch näher ein.

Vorführung Schluss von „Tonis Träume“ (5’, *.wmv 270MB)
alternative Datei *.VOB (170MB)
oder (am schnellsten) über YouTube


Bevor ich noch einmal auf die gezeigte Szene eingehe, mache ich noch einen kleinen Exkurs.

Filmen heisst doch, eine für das Publikum konsumierbare Form suchen für das, was ich wahrnehme und was in meinem Kopf abläuft. Meine Botschaft wird dabei bestimmt durch die Wahl des Kamerastandpunktes, des Lichtes, der Belichtung, der Cadrage, des Schnittes, die Wahl der Töne, des Kommentars, der Mischung, des Zeitpunktes der Ausstrahlung, des Senderahmens. Ich schaffe damit ein künstliches Produkt, das die von mir wahrgenommene Realität wiedergeben soll. Es nähert sich im Idealfall meiner Wahrnehmung an, doch es ist nicht die Wahrnehmung selbst, sondern ein Bild davon. Leider ist es schon fast ein allgemeingültiges Prinzip geworden, dass dabei die Spuren des Prozesses hin zu diesem Bild verwischt und Hinweise darauf unkenntlich gemacht werden. Dem habe ich entgegenzusteuern versucht. Ich habe es zur Maxime gemacht, dass bei meinen Filmen jederzeit erkennbar ist: Das ist nicht die absolute Wahrheit, sondern meine subjektive Wahrheit, um deren Darstellung ich ringe.

Auch beim Roman oder beim Spielfilm suchen Leserinnen, Leser und Zuschauer die Wahrheit, und auch hier finden sie „bloss” die individuelle Wahrheit des Autors. Sie kann jedoch in Beziehung gesetzt werden zur eigenen Lebenserfahrung, zur eigenen, individuellen Wahrheit. Und niemand wird bestreiten, dass Romane und Spielfilme nebst Traum und Phantasie auch Zugang sind zur Welt, Wahrnehmung echten Lebens. Die Umsetzung zersetzt die Wahrheit nicht, sondern sie spitzt sie zu, verallgemeinert sie, differenziert sie und macht die Wahrnehmung zum geistig-sinnlichen Genuss.
Dieser Vorgang funktioniert offensichtlich im journalistischen, mithin dokumentarischen Bereich nicht. Wer sich einen Dokumentarfilm anschaut, erliegt meist der Faszination des sogenannt Authentischen. An einen Dokumentarfilm stellt kaum jemand die gleichen dramaturgischen Anforderungen wie an einen Spielfilm. Allein die Tatsache, dass es da um das sogenannt wirkliche Leben geht, schafft schon eine erhöhte Spannung; denn das Dokumentarische wird als das Wirkliche genommen.

Nun, als Dokumentarfilmer beim Fernsehen profitierte ich ja ganz gerne von diesem Bonus. Und ich erliege auch selbst als Zuschauer immer wieder und gerne der speziellen Faszination des „Authentischen”. Doch hat mir die Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit die Erkenntnis gebracht: Auch ein Dokumentarfilm ist inszeniert – und damit Fiktion. Dies war mir lange Jahre nicht bewusst, und erst eine Serie von zum Teil schmerzlichen Erfahrungen brachte mich zu dieser Überzeugung. Mit einem kleinen biographischen Exkurs will ich darlegen, wie ich zu diesem anderen Blick auf das Dokumentarische kam und welche Folgen dies hat.

Als 1980 Felix Karrer die Aufgabe übernahm, Dokumentarfilme im Fernsehen zu produzieren, nannte er die neue Sendung „Gegenspieler”; die Filme sollten grundsätzlich als Doppelporträts gestaltet sein. In seiner Planung stand unter anderem das Thema „Arzt/Patient”, Dreh- und Schnitttermine dafür waren festgelegt. Zwei, drei Wochen vor Drehbeginn erklärte sich der dafür vorgesehene Autor als ausserstande, den Film fristgerecht abzudrehen. Da fragte mich Karrer, ob ich die Sache übernehme.

Ich suchte mir für meinen ersten „richtigen” Dokumentarfilm eine Bäuerin aus dem Seeland aus, die sich im Bieler Kreisspital Gallensteine herausoperieren lassen musste. Ich stellte mir vor: auf der einen Seite die natürliche Bauersfrau, auf der anderen Seite der hoch technisierte Spitalapparat. In meinem Kopf (für Recherchen hatte ich kaum mehr Zeit) hatte ich den Zusammenprall von Natur und Technik inszeniert. Ich nahm gedanklich den Countdown vorweg: Die menschlich-sympathische Bauersfrau, ihrer natürlichen Umgebung beraubt, den kalten, fortschrittsgläubigen Ärzten und ihren Apparaten ausgeliefert, leidet im Spitalbett.

Auf Grund meiner Erfahrung wusste ich, dass man auch noch während des Drehs die Augen offen halten muss und nicht nur den phantasierten Inszenierungen vertrauen darf. So blieb mir nicht verborgen, dass sich alles ganz anders als erhofft abspielte. Die Bäuerin hatte ganz einfach ihr Dorf ins Spital mitgenommen. An einem Tag tauchte ihre Familie am Spitalbett auf, am andern der Frauenverein, am dritten der Männerchor usw. Vom Spital und von seiner Funktionsweise blieb die Patientin fast unberührt. Zu guter Letzt hatte sie auch noch einen netten Arzt und liebe Krankenschwestern. Mein Film wurde völlig anders als gedacht – aber das Wichtigste: Gerade weil ich kein Klischee kolportieren konnte, traf die Dokumentation ein Stück schweizerischer Realität. Das Erlebnis verschaffte erst mir und in der Folge davon auch den Zuschauer(inne)n ein differenzierteres Bild der Bäuerin. Was bei diesem Prozess draufging, war bloss meine vorgefertigte Inszenierung....

Damit komme ich zurück zum Begriff der Magie des Augenblicks.

Diese mit der Bäuerin gemachte Erfahrung verleitete mich dazu, mir einzureden, dass das, was ich filmte, die Realität sei. Nur wer so nahe an die Leute heran geht, sich und die eigenen Vorstellungen immer wieder in Frage stellt und stets offen bleibt für alles, was vor Kamera und Mikrofon abläuft, nur der schafft echt Dokumentarisches, dachte ich.

Ich versuchte immer konsequenter, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Nur ja nichts stellen, nichts inszenieren. Ich machte es mir zur Maxime, nie mit vorformulierten Fragen an die Leute heran zu treten, sondern das offene Gespräch zu suchen. Ich prägte den Begriff von der „Magie des Augenblicks”, den es nur zu spüren und einzufangen gelte. Ich deklarierte: Jeder Mensch hat sein Geheimnis, das – berührt man es – diesen Menschen liebenswert macht.

Wir entwickelten uns geradezu zu Fetischisten des Unverfälschten, Direkten. Pausen in den Gesprächen, wie sie in einem guten Gespräch im Alltag üblich sind, wurden zu Markenzeichen von Karrers und meiner Arbeit. Wir nahmen auch mangelhaftes Licht in Kauf, wenn wir dafür ein realeres Ambiente einhandelten und unsere Protagonist(inn)en dafür weniger gehemmt waren. Handkamera und plan séquence markierten Echtheit.

Für mich war klar: Dokumentarisch hiess uninszeniert. Doch dann geschahen im Laufe der Jahre Dinge, die mein Verständnis von Dokumentarfilm, von Unmittelbarkeit und Echtheit, erschütterten. Ich ging Lernschritte, aus der Erfahrung heraus.

1981 arbeitete ich an meinem dritten Dokumentarfilm, an „Krüppel und Fee”, einem Doppelporträt eines körperlich schwer behinderten Studenten und der Generalsekretärin der Stiftung Pro Infirmis. Wir drehten das Gespräch mit dem Studenten in seiner Wohnung. Vorweg erklärte dieser, es sei denkbar, dass irgendwer vorbei komme, während wir am Filmen seien. Ich meinte, dass mich ein Besuch nicht störe, nur sollten wir diesen gleich in den Film einbauen. Und weil der Beleuchter während des Gesprächs nichts zu tun hatte, bat ich ihn, währenddessen im Vorraum zu warten und allfällige Besucher aufzufordern, einfach wie sonst auch einzutreten und uns, die Fernsehequipe, zu ignorieren.

Das Gespräch mit dem Studenten dauerte lange. Schliesslich fragte ich ihn, wie er trotz seiner schweren Behinderungen alleine leben könne. Er wies darauf hin, dass sich seine Wohnung im Parterre befinde und ihm Hilfsmittel jeglicher Art die Hausarbeit erleichterten. Ausserdem – und dies sei das Wichtigste – hätte er eine Reihe guter Freundinnen und Freunden, die öfter vorbei schauten, um ihm Einkäufe zu erledigen oder sonst wie behilflich zu sein.

Genau in diesem Augenblick klopfte es an die Türe, und eine Freundin trat ein, die nach der Begrüssung sofort erklärte, sie gehe einkaufen, ob sie ihm etwas mit bringen könne. Es war die vollkommene szenische Illustration des eben Besprochenen.

Ich triumphierte. So machte Filmen Freude! Hätte ich einen Spielfilm gedreht, besser hätte sich das nicht inszenieren lassen. Und alles war mir einfach in den Schoss gefallen. Nur zulassen, geschehen lassen musste man die Dinge, dann kam es gut!

Doch dann kam alles anders, als ich es mir gedacht hatte. Statt dicken Lobes für diese Szene bekam ich überall die gleiche vernichtende Kritik zu hören: „Das war eine plumpe Inszenierung!” Meiner sonst doch so spontan-echten Art zu drehen sei derlei völlig unwürdig.

Dabei hatte ich doch nichts als die Wirklichkeit gezeigt, die reine, uninszenierte Wahrheit! Zum ersten Mal ahnte ich: Was ich wahrnehme, ist nicht dasselbe wie das, was die Zuschauer zu Hause sehen.

Wenn sich später bei anderen Drehs Zufälle dieser Art ergaben, überlegte ich lange, ob und wie ich sie beim Schneiden in den Film einbaue. Die Freude an solchen Ereignissen war mir vergangen.

Ein zweites Erlebnis dieser Art, weniger dramatisch, aber nicht weniger einschneidend, hatte ich später in einem redaktionsinternen Dokumentarfilmseminar. Siegfried Zielinsky, damals Professor an der Kunsthochschule für Medien in Köln, zerlegte auf brillante Weise eine Reihe unserer Filme und kam dabei zum Schluss: „Traum Frau”, mein Film über die Transsexuelle Coco, sei ein durchwegs inszenierter Film.

Was für mich ein Schimpfwort war, war für ihn ein Kompliment. Ja, er erachtete die Inszenierung für einen Dokumentarfilm als geradezu zwingend.

Von da an erkannte ich, dass allein schon der Rhythmus eines Filmes, die Verwandlung der Echtzeit in ein 50-minütiges Format und fast alles an meiner Arbeit Inszenierung war. Ich bin zwar durchaus immer noch der Meinung, dass das Ungestellte, Spontane, nicht Vorformulierte in Dokumentarfilmen ein Qualitätsmerkmal ist. Doch allmählich wurde ich gewahr, dass ein guter Dokumentarfilm eben immer eine Inszenierung der Wirklichkeit ist.
Mit der Gestaltung eines Kunstproduktes kann ich mich dem Gehalt des Wirklichen genauer annähern, als wenn ich einfach „fest drauf halte” und eine reale Situation quasi 1:1 zu vermitteln versuche, dabei ignorierend, dass schon die Anwesenheit einer Kamera diese Wirklichkeit verändert und die Dinge auf dem Fernseher zu Hause einen völlig anderen Sinngehalt bekommen, als wenn ich persönlich irgendwo anwesend bin.

Weil alles Dokumentarische, aber auch alle Informationsberichte gemacht sind, sind sie auch fälschbar. Sage ich: Dies ist die Wirklichkeit, so meine ich: Das ist die von mir in meinem Kopf gemachte Wirklichkeit. Das heisst: Jede Wahrnehmung ist eine inszenierte.

Dennoch: Obwohl auch die dokumentarische Realität eine inszenierte ist, strebe ich mit der grösstmöglichen Offenheit – ohne zielgerichtete Fragen – und mit dem Wissen, dass mir ein Porträtierter mehr zu zeigen hat, als ich antizipieren kann, das grösstmögliche Mass an Authentizität an.

Authentizität und Inszenierung schliessen sich nicht aus: Diese Erkenntnis war für meine Entwicklung als Dokumentarfilmer ein entscheidender Lernschritt, einer, den ich tat, ohne mich mit Druck, Angst und Zwang zu etwas vorzuarbeiten. Ich litt zwar auch, bis ich zu dieser Erkenntnis fand, doch es war ein lustvolles Leiden, ein Weg, den mir mein Interesse an der Kunstform Film, aber auch meine Faszination für Menschen aller Art und für verschiedenste Lebensformen vorgezeichnet hatten, ein Lernschritt, den ich mit Lust tat.

Damit komme ich zu einer Erkenntnis, einem Lerninhalt, der mir zur Lebensmaxime geworden ist. Ich behaupte: Jeder Mensch, der mir Einblick gewährt in seine Geschichte, der mir seine inneren Widersprüche offenbart, wird dadurch für mich interessant und liebenswert. (Die Umkehrung davon: Das langweiligste an jedem Menschen sind seine Mauern, seine Abwehrmecha-nismen). Und in der Folge davon: Wer für mich interessant ist, der ist es auch für ein potentielles Publikum.

Damit komme ich zurück zu meiner Suche nach dem magischen Augenblick, in dem sich eine Wirklichkeit szenisch entwickelt und sich mir damit neue Einblicke in Menschen, auf die Welt und ins Leben öffnen. Das habe ich in der Ihnen gezeigten Szene aus „Tonis Träume” erlebt. Methodisch funktioniert dies bloss, wenn ich mir zuvor meine Vorurteile, meine emotionalen und kognitiven Begrenzungen bewusst mache und mich öffne für das Unerwartete. Ich muss zwar bereit sein einzugreifen, meine grösste Leistung ist aber meine absolute, nicht fokussierte Aufmerksamkeit (in der Psychoanalyse spricht man von der „frei schwebenden Aufmerksamkeit”). Einfühlung und Geduld bieten dabei die besten Aussichten auf Erfolg.

Meine Lebenserfahrung zeigt mir: An den Grundstrukturen, den Parametern der Zuschauer kann ich bestenfalls ritzen, sie grundlegend zu verändern, ist nicht möglich. Ich glaube fest daran, dass sich ideologische, fundamentale Werte eines Menschen nur über schmerzhafte, erschütternde, emotional tief greifende Erlebnisse verändern. Das können schockartige Erfahrungen sein, es können aber auch sukzessive wiederkehrende Erlebnisse sein. Doch rein kognitiv, auf Grund rationaler Erkenntnisse werden Grundwerte nicht über Bord geworfen. Das bedeutet auch, dass Zuschauer nur wahrnehmen und aufnehmen, was ihren Parametern nicht zuwider läuft. Deshalb ziele ich bei meinen Filmen - in der Absicht, an Vorurteilen zu kratzen - immer auf Emotionen, die ich mit dem Angebot auf Identifikation mit meinen Protagonisten auszulösen versuche.

Keine Wahrheit ist absolut. Ich habe mit langsamen, geduldigen und vergleichsweise langen Filmen die ZuschauerInnen zu berühren versucht. Ich dachte mir, dass meine Absicht, Menschen zu öffnen, zu ihrem Inneren vorzustossen, zwingend auch Zeit braucht; und zwar nicht nur beim Drehen, sondern auch im geschnittenen Film. Wollte ich ihnen gerecht werden, so sollten sie sich differenziert darstellen können. Das heisst: Lange, ruhige Einstellungen, Gespräche mit Pausen. Die mediale Realität von heute ist aber eine andere: Kurze, hektische, schnell hergestellte TV-Beiträge und gedruckte Porträts haben Konjunktur.

Vor ein paar Jahren fragte mich eine grosse englische Werbeagentur an, ob ich für sie im Auftrag der Swisscom ganz spezielle Spots drehen würde. Spots sind nun aber die extremste Kurzform, in etwa das pure Gegenteil dessen, was ich in den vorangegangenen gut zwanzig Jahren realisiert hatte. Liessen sich meine Grundsätze, meine Ethik auch in Werbespots anwenden? Die Swisscom wollte - quasi als Geschenk an die expo02 - vierzehn 60”-Spots. Ich wagte es und drehte sie - mit relativ grossem finanziellem und zeitlichem Aufwand. Mich interessierte es, ob auch in dieser Kurzform so etwas wie ein echtes Porträt zu realisieren wäre.

Bevor ich Ihnen das Resultat zeige, kurz etwas zur Vorgeschichte: Die Auftraggeber hatten in Spots und Inseraten einen Aufruf lanciert. Wer einmal in einem Werbespot eine volle Minute lang irgendetwas am Fernsehen sagen möchte, solle sich mit einer kurzen Beschreibung dessen, was er zu erzählen hat, melden. Mir wurden dann 5'000 Zuschriften und e-mails präsentiert, ich suchte davon 100 aus und telefonierte mit den Verfassern. Danach wählte ich 50 aus, mit denen ich drehte. Davon liefen dann auf allen drei Sendern der SRG 14 der Spots, zur allerbesten Werbezeit. Beim Realisieren dieser Spots lernte ich: Meine Maximen liessen sich auch in Kurzform anwenden. Was ich über Authentizität und Inszenierung sagte, lässt sich auch in diesen Kürzestformen belegen.

Vorführung von fünf Swisscom-Spots (6’, *.wmv 200MB)
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Soviel zur Art und Weise, wie ich in meinem Leben zu lernen lernte. Bleibt noch anzumerken, dass ich nicht sicher bin, ob ich auch in den heutigen, für die Jungen wesentlich schwierigeren Zeiten meinen Weg hätte gehen können. Mir graut, wenn ich sehe, wie viele Jugendliche heute nach der Schulzeit trotz bestem Willen perspektivenlos vor einer grossen Leere stehen. Ich denke, dass wir, wenn wir es nicht schaffen, das zu ändern, hier auf einer gewaltigen Zeitbombe sitzen bleiben.

Auch wenn Sie nun nicht alles, was ich dargelegt habe, 1:1 in Ihren Schulstunden umsetzen können, so hoffe ich doch, dass Sie die eine oder andere Anregung für Ihren weiteren, sicher nicht einfachen Berufsweg mitnehmen können. Und sei es nur die Tatsache, dass auch aufsässige, unangenehme und lernfaule Schülerinnen und Schüler unter glücklichen Umständen etwas lernen und ihren Weg gehen können. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


© 10.9.05 Paul Riniker

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